25.03.2003
Dass
die Welt eine bessere wird...
Stehende
Ovationen für «Les Miserables»-Premiere am Anhaltischen
Theater
Das mehrbändige
Romanepos “Die Elenden“ von Victor Hugo war die literarische Vorlage.
Claude-Michel Schönberg (geb. 1944) schrieb dazu eine Musik und machte
gemeinsam mit Alain Boublil ein Musical daraus: “Les Miserables“! Es hatte
1985 seine Uraufführung in London. Und - es gehört seitdem zu
den weltweit erfolgreichsten Musicals. Am Anhaltischen Theater Dessau
erlebte es am vergangenen Freitagabend eine vom Publikum mit großer
Begeisterung und stehenden Ovationen bedachte Premierenaufführung - total
verdientermaßen. Von Helmut Rohm
Dessau. Die Anerkennung war allumfassend: Für eine
bravouröse künstlerische Ensembleleistung auf der Bühne und im
Orchestergraben mit hohem individuellem Engagement. Für eine mitreißende
Inszenierung. Für eine opulente Aufführung mit Historie und auch
Atmosphäre beförderndem Bühnenbild und Kostümen, die mit den ideenreich
und effektvoll eingesetzten, gewaltigen technischen Ressourcen der
Dessauer Bühne beeindruckende Wirkung erhielt. Die musikalische Leitung
hatte Robert Hanell. Es spielte die Anhaltische Philharmonie Dessau. Ulf
Reiher besorgte die Inszenierung. Walter Perdacher schuf das Bühnenbild.
Die Kostüme entwarf Cordula Stummeyer. Für die Choreinstudierung zeichnete
Markus Oppeneiger verantwortlich. Deanna Carter hatte choreografisch
mitgearbeitet. Die technische Gesamtleitung hatte Helmut Uschmann.
Das Musical-Libretto, umgesetzt in gut drei Stunden,
verdichtet den großen Eposinhalt, die weitgefächerte Geschichte, deren
vielfältigen Zusammenhänge und Nuancen notwendigerweise auf wenige
Handlungslinien, die einzelne Schicksale “personifizieren“ und sich auch
miteinander verbinden. Oft kurze Szenen in schneller Folge sichern den
Handlungsverlauf, lassen auch Gefühle und Stimmungen, menschliche
Dramatik, deren Entstehen und Entwicklung nachvollziehbar verständlich
werden. Das Musical erzählt die ergreifende Geschichte
des ehemaligen Sträflings Jean Valjean, der 1815 nach 19 Jahren Zuchthaus
entlassen wird, dem zunächst - genaugenommen eigentlich immer - der Makel
des Verbrechers anhängt. Mit eines Bischofs Hilfe wird er geläutert. Unter
neuem Namen führt er, acht Jahre später, als Fabrikbesitzer und
Bürgermeister von Montreuil-Sur-Mer ein ehrbares Leben. Ihm ist der
ehemalige Aufseher und jetzige Inspektor Javert - sein Erzfeind - jedoch
immer auf der Spur. Nachdem Valjean gerade noch Fantine, eine seiner
ehemaligen Arbeiterinnen, vor dem Gefängnis gerettet hat, muss er wieder,
trotz seiner guten Tat, vor der Justiz fliehen. Er verspricht der
sterbenden Fantine, sich deren kleinen Tochter Cosette anzunehmen, die
seit Jahren bei durchtriebenen Pflegeeltern leben muss.
Valjean kauft Cosette von den geldgierigen Thénardiers
frei, geht mit ihr nach Paris, wo er sie als seine Tochter ausgibt und ihr
eine Ausbildung ermöglicht. 1832 herrscht in Paris
großes Elend. Es ist die Zeit der Unruhen und Revolten.
Neben dem Spannungsfeld zwischen Valjean und Javert
entwickelt sich in den Wirren der Revolution zwischen Eponine, Tochter der
Thénardiers, Cosette und dem Studenten Marius, drei ganz verschiedenen
jungen Menschen, eine schicksalhafte Beziehung, die letztendlich auch über
Leben, Liebe oder Tod entscheidet... Die Dessauer
Inszenierung ist von Anbeginn an durch emotionale Wirkung, auch Symbolik
geprägt. So spürt der Zuschauer schon im Prolog fast körperlich die Pein
der mit Fuß-Ketten gefesselten Häftlinge, die sich ständig dahin
schleppen, ohne je eine Erlösung vor Augen zu haben. Der Gefangenenchor
beeindruckt den Zuhörer. Jerzy Jeszke spielt mit einer
nahegehenden und glaubhaften Emotionalität einen Valjean, der vom
gepeinigten Kleinkriminellen zum ehrbaren Bürger mit Engagement für Andere
wird. Seine Stimme bestach durch große Variabilität und Ausdrucksstärke.
Sein Spiel traf die Befindlichkeiten der Figur treffend. Das Einssein mit
der Rolle, insbesondere auch die altersmäßig bedingte Veränderung,
faszinierten die Gäste. Seinem Widersacher Javert gab
Kostadin Arguirov einen bemerkenswerten, von Hass und geglaubtem
Gerechtigkeitssinn getriebenen, später an seinen eigenen Prinzipien
scheiternden Inspektor. Erfrischende, auch komödiantische Lichte setzen
Hildegard Wiczonke und Pavel Safar als die Wirtsleute Thénardiers, die
sowohl gierig und durchtrieben, lächerlich und aufgetakelt, immer sehr zur
Freude der Gäste agierten. Besondere Hochachtung gebührt Hildegard
Wiczonke für deren verblüffende Agilität und Spielfreude.
Eponine und Cosette verlieben sich beide in den
Studenten Marius. Kristina Baran gestaltet die unglücklich liebende
Eponine mit klarer modulierender Stimme sehr bewegend, ließ deren Gefühlen
freien Lauf, gefiel mit wunderschönen Soli und in den Duetten, wie beim
“Nur für mich...“ oder beim sehr bewegenden “Der Regen färbt mich rot“.
Zauberhaften Liebreiz durch die schöne Stimme und das unbekümmerte Spiel
verlieh Christina Gerstberger der Cosette. “Schon so lang...“ oder das
Duett mit Peter Diebschlag (Marius) in der “Balkonszene“ beeindruckten das
Publikum nachhaltig. Beifall gab es auch für Anna
Jeschke (kleine Cosette) und Julia Rudolph (kleine Eponine).
Peter Diebschlag war in den ganz verschiedenen
Situationen als Marius stets souverän: als engagierter revolutionärer
Student, als gefühlvoller Liebender, als sterbenskranker Verletzter.
Überzeugend auf der Barrikade, gradlinig im Denken und
Handeln präsentierte sich Kai Bronisch als Studentenanführer Enjolras. Als
Gavroche wirbelte Anne Weinkauf auf der Bühne, die den Straßenjungen mit
Witz und Pfiffigkeit darstellte. Ein ganz besonderes
Lob gebührt den Damen und Herren des Opernchores und des Extrachores. Sie
haben nicht nur den von Ulf Reiher prächtig in Szene gesetzten vielen
Massenszenen maßgeblich pralles Leben verliehen und natürlich die
Chorsequenzen ausgezeichnet gesungen. Sie waren auch voll mit gefordert
bei der besten Umsetzung der langen Besetzungsliste. Da hatte fast jeder
vom Chor eine, manche auch mehrere solistische Aufgaben zu erfüllen - und
sie haben es prima gemacht. Denn insgesamt waren über 80 Rollen zu
spielen. Und - bis auf Jerzy Jeszke und den schon in Dessau spielenden Kai
Bronisch - kamen alle aus dem eigenen Haus oder vom “eigenen Nachwuchs“.
Über die Bühnentechnik, respektive deren Einsatz,
könnte man viel schreiben. Es möge hier vielleicht nur an den vielseitigen
Einsatz der Bühne erinnert sein oder an die mehrfachen Hubbühneneinsätze.
Zu den herausragenden Umsetzungen zählt wohl der “Abstieg“ in die Pariser
Kanalisation, als Valjean den halbtoten Marius rettet. Licht in allen
Erscheinungen, traum- und gefühlsvermittelnde durchscheinende Vorhänge
brachten ein gewisses heimliches Fluidum. Die gewaltige hör-, seh- und
riechbare Barrikadenkampfszene hinterließ einen nachhaltigen
Eindruck. Beeindruckend ist die Musik von “Les
Miserables“, die auch schon einen “Grammy“ gewonnen hat. Unter Robert
Hanells Leitung präsentierte das Orchester diese umfangreich
stimmungsvolle, moderne, emotionale, dramatische und sich einprägende
Musik mit gehöriger Eleganz und gleichsam mitreißend und bewegend. Der
Altmeister am Pult sorgte für ein bestens abgestimmtes Zusammenwirken von
Orchester, Chor und Solisten. Beim Finale erschien das
komplette Ensemble, auch dabei überlegt inszeniert, auf der Bühne,
effektvoll präsentiert zu einem großen Schlussbild. Bei der Premiere
wurden dabei auch Kerzen angezündet, eine Lichterkette gebildet.
Da schloss sich der Bogen zum Beginn des Abends. Vor
der Vorstellung hatte Johannes Felsenstein, Generalintendant des
Anhaltischen Theaters, auf der Bühne anlässlich der besonderen Situation
des Kriegs im Irak darauf verwiesen, dass das Theater immer humanistische
Aussagen vermittle, dass es ein wahrer Gegenpol zum Krieg sei. Deshalb
werde gespielt. Man sei sich einig mit dem Publikum im Verurteilen von
Krieg, und sicher in der Akzeptanz des Theaters.
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